Prosa: Früher

Prosa: Früher

Woran merkt man (oder frau), daß er (oder sie) alt wird? (Verzeihung, frau wird ja nicht alt, nur reif). Na, daran, daß Sätze öfter mit "Früher ..." oder "Damals ..." beginnen.

Beginnen Wir also diesen Aufsatz auch mit "Früher ..."

Das bedingt aber, da "früher" ein Komparativ ist, einen zeitlichen Bezugspunkt. Nehmen wir den 01.01.1970. Daraus ersieht man, daß ich schon ziemlich alt bin.

Früher noch als der Beginn dieser Unix-Zeitzählung begann ich mich schon mit Technik zu beschäftigen. Zunächst - weil in Bocholt geboren - mit Tretrollern und Fahrrädern, dann mit Märklin-Stabilbaukästen. Deren Schrauben und -muttern regten mich zum Bau teilweise skurriler, der praktischen Nutzung nicht zugänglicher Kreationen an, die allerdings nach kurzer Zeit schadlos wieder auseinander genommen und zu Neuem verarbeitet werden konnten.

Dann kam der Tag, als ich den ersten "Elektromann" bekam, einen Lehrbaukasten vom Kosmos-Verlag. Batterien, Magnetkerne, Rotoren, Drähte, Glühbirnen (waren damals noch nicht verfemt), Schalter, Grundplatten, Schaltpläne und - Erklärungen!! Ich habe das Teil innig geliebt. Physik und Technik, richtig erklärt und begreiflich gemacht, dazu praktische Umsetzung! Wieso knipst man das Licht unten im Flur an und kann es oben wieder ausknipsen? Wechselschaltung! Wieso brennen zwei in Reihe geschaltete Lampen schwächer als eine einzelne? U = I * R! (Nein, "!" ist hier keine Fakultät. Und Fakultäten lehren sowas eh nicht, die fangen gleich mit E = m * c**2 an ...) Warum dreht sich ein Elektromotor? Sich abstoßende Magnetpole! Und und und ... Das Geräusch des erstmals funktionierenden, selbst gewickelten Elektromotors kann ich mir noch lebhaft ins Gedächtnis rufen. Ich fand's klasse. Nicht nur anwenden, sondern begreifen, was da vor sich geht.

Weiter ging es mit Chemie-Baukästen, auch wenn Loriots "Wir bauen ein Atomkraftwerk" nicht dabei war. Aber Elektrolyse und Knallgas machen mir heute noch begreiflich, warum ein Shuttle überhaupt abheben kann. Ganz so intensiv habe ich mich allerdings nicht damit beschäftigt, weil a) die Chemikalien teuer waren und b) die Eltern ab einer bestimmten Entwicklungsstufe um den Bestand der Wohnung zu fürchten begannen.

Und dann - Elektronik-Baukästen. "Vom Gebirg zum Ozean, alles hört der Radiomann". Man, habe ich mich gefreut, als das erste selbst gebaute Röhrenradio tatsächlich per Kopfhörer (deren Funktion ich selbstverständlich auch erklärt bekam - siehe Magnetismus "Elektromann" ) Musik aus der Mittelwelle herausholte. Geflucht habe ich über die Empfindlichkeit der Drehkondensatoren, die schon beim Nähern der Hände die UKW-Empfangsfrequenz verschoben. Geflucht hat meine Schwester, als ich ihr mittels eines UKW-Senders auf der Frequenz von RTL einen Mozart einspielte. Geärgert habe ich mich, wenn ich einen npn-Transistor wie sein pnp-Pendant anschloß und damit zerstörte. Aber gelernt habe ich! Stromkreise, Rückkopplungen, Kapazitäten, Abstimm-Dioden, Emitterschaltung, Superheterodyne-Prinzip (nicht lachen, braucht man heute auch noch beim Empfang von UKW etc, nur nennt es keiner mehr so), Zwischenfrequenz, Mischstufe, Diskriminator-Schaltung, Frequenzmodulation sind für mich auch heute noch geläufige Begriffe. Ich habe öffentlich diskrete Bauelemente gekauft, konnte den Wert eines Widerstandes am Farbcode erkennen und mit der Lötpistole umgehen. Habe sogar gelernt, alte Fernsehapparate zu reparieren. Die ab und zu erhaltenen Elektroschocks waren vergessen, wenn, grau in grau und verrauscht, Bayern München gegen Mönchengladbach zu sehen war. Na gut, die Bayern gewinnen heute auch noch, aber viel schöner ist's in HDTV, Farbe und Plasma-Bildschirm auch nicht wirklich. Und Werbung mitten drin gab's auch nicht. Sogar Grundbegriffe der Computerei haben mir die Kästen vermittelt. Eigenhändig habe ich Flipflops - die übrigens nicht mit Jesuslatschen verwandt sind - zusammengestöpselt. Und Monoflops, deren miniaturisierte Nachfahren heute in unseren DRAMs immer noch Dienst tun. Habe anhand von mehreren durch kaskadierte Flipflops angesteuerten Glühlampen das Dualsystem begreifen gelernt. Und Bücher verschlungen: "Was denkt sich ein Elektronengehirn?". "Die Nachtwandler". "Radiobasteln für alle"...

Als ich dann - später - lernte, mit Computern umzugehen, hatte ich zum Glück Kollegen, die mir geduldig wie meine Bücher und Baukästen erklärt haben, wie die Dinger funktionieren. Ich muß die Kisten nicht bauen können, aber ich weiß, warum Umlaute manchmal so seltsam aussehen, kann nachvollziehen, wie ein Druck auf die Taste ein Programm startet, bin nicht wirklich sauer, wenn ein Programm mal nicht funktioniert. Ich habe über die Technik der Magnetplatten und den verwendeten Riesen-Magnet-Widerstand gelesen, weiß in etwa über Ätz- und Belichtungstechniken in der Chipherstellung Bescheid, kann das Moor'sche Gesetz her- und sogar noch Funktionen ableiten. Übergabe- und Stellungsparameter sagen mir was und mir ist der Respekt vor großen Zahlen und Mengen noch nicht abhanden gekommen.

Vielleicht, weil ich - früher - gelernt habe, ein einfaches Prinzip zu schätzen und weiß, wieviel Transistoren für ein Megabyte RAM gebraucht werden. Manchmal vermisse ich diese Einstellung bei Neueinsteigern in Sachen Computerei. Ein Betriebssystem aufsetzen, Patches einspielen, Programme installieren (geht mit MSI recht einfach), in Blogs und sozialen Netzwerken herumtoben, vielleicht auch noch IP-Adressen fehlerfrei eintippen. Aber ein Gigabyte mehr oder weniger? Egal, wie haben's doch. Darf's ein GHz mehr sein? Klar definieren wir Textfelder immer gleich mit 256 Byte.

Mir scheint das "ich will es wissen" und der Respekt verloren gegangen zu sein. "Das ist mir egal, wie es funktioniert, Hauptsache, es funktioniert!" Seien wir ruhig verschwenderisch, bloggen, twittern und chatten wir, schmeißen mit Terabyte-Festplatten um uns und stapeln BluRay-Discs. Und glauben jedem, der eine neue Sau durch's digitale Dorf jagt, weil wir nicht durchdenken können, was dahinter steckt. Wir haben es ja nie gelernt. Und irgendwo in der Cloud haben wir bestimmt einen, der es weiß und den wir fragen können. Wenn wir wollen.

Früher ... oder später werden wir merken, daß das so nicht klappt. Vermutlich früher.

Mai 2010